Bei Männchen gehört Infantizid fast schon zum Standardprogramm
Bei vielen Säugetierarten von Löwen bis zu Mäusen gehört es zum normalen Verhalten von Männchen, Jungtiere zu töten. Dass männliche Tiere eine Gefahr für junge Exemplare der eigenen Spezies darstellen, erfährt man inzwischen regelmäßig in Dokumentarfilmen, die beispielsweise Hanuman-Affen in Indien oder Bären in Kanada zeigen. Dann vergisst der Sprecher (komischerweise fast immer ein Mann?) selten zu erwähnen, dass die Männchen dieser Spezies regelmäßig Jungtiere der eigenen Art umbringen.
Die Jungen töten? Was soll das?
Meistens wird auch gleich erklärt, wie sich so ein Verhalten verstehen lässt: Männchen töten die Kinder anderer Männchen, weil die Mütter daraufhin schneller wieder paarungsbereit werden. Das erhöht die Chance, selbst Nachkommen zu zeugen (die dann allerdings mit der Gefahr leben müssen, von anderen Möchtegern-Väter umgebracht zu werden).
Natürlich kann man Tieren nicht einfach Erhaltung der eigenen Erbanlagen als bewusstes Motiv unterstellen Aber in der Konsequenz kann Infantizid dafür sorgen, dass das Verhalten die Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Fortpflanzung erhöht, und die Nachkommen haben dieses Verhaltensmerkmal mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit selbst geerbt, so dass es sich langsam durchsetzt. Evolution eben.
Weiblicher Infantizid: Wenn Mütter fremden Nachwuch töten
Weniger bekannt ist, dass Infantizid auch bei Weibchen verbreitet ist, auch unter Säugetieren. Belegt haben das zwei Evolutionsbiologen, Elise Huchard aus Frankreich und Dieter Lukas, der in Leipzig und Cambridge forscht: Sie untersuchten 289 Säugetierarten. Bei 89 davon, annähernd einem Drittel, war beobachtet worden, dass weibliche Tiere Jungtiere der eigenen Art in ihrer Umgebung getötet hatten. Dazu gehörten etwa die schon erwähnten Hanuman-Affen, aber auch Seelöwen, Fledermäuse und Eichhörnchen.
Die Studie gibt es hier: „The evolution of infanticide by females in mammals„, Dieter Lukas, Elise Huchard, September 2018.
Infantizid durch weibliche Säugetiere: der schnelle Spickzettel
In der Studie ging es darum, herauszufinden, womit eine Neigung zu Infantizid korreliert ist. Einige der Ergebnisse (so wie ich es verstanden habe, und in sehr verkürzter Form):
- Kindermord ist ein soziales Phänomen
Zu Infantizid neigen sozial lebende Säugetierweibchen. Entscheidend ist das Leben in Gruppen und vor allem die räumliche Nähe zu Jungtieren anderer Mütter. Besonders hoch ist die Infantizid-Neigung, wenn die Weibchen nur zur Kinderaufzucht in der Gruppe leben. - Je höher der Investitionsbedarf, um so größer die Neigung zum Töten
Die Infantizid-Neigung von Weibchen ist damit verknüpft, wie viel Energie erfolgreiches Aufziehen von Jungtieren erfordert. Faktoren wie das Geburtsgewicht, die Länge der Trächtigkeit und die Größe der Würfe spielen also eine Rolle. - Eine Ressourcenfrage – von Nahrung bis zur Rangfolge
Infantizid kommt dort vor, wo die Weibchen einerseits viel Energie in eine erfolgreiche Fortpflanzung investieren müssen und andererseits die Ressourcen für ein Überstehen der Kindheitsphase knapp sind. Neben Nahrung gehören zu solchen Ressourcen auch geschützte Aufenthaltsorte oder soziale Zuwendung und Position – bei vielen Säugetier-Jungen entscheidet der Platz in der Rangfolge der Gruppe über die Chancen, am Leben zu bleiben. - Blut ist nicht dicker als Wasser
Ein weiteres Ergebnis: ein enger Verwandtschaftsgrad scheint weiblichen Infantizid nicht zu verhindern.
Spannend fand ich noch einen Hinweis von Elise Huchard: Die Spezies, bei denen Männchen zu Infantizid neigen, sind vorwiegend andere als die, bei denen Weibchen so ein Verhalten zeigen.
Dieter Lukas ist Evolutionsbiologie am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Elise Huchard ist Evolutionsbiologin am Institut des Sciences de l’Evolution de Montpellier (ISEM).
Was folgt daraus für uns Menschen?
Nichts. Zumindest nichts, was man einfach so aus der Verhaltensbiologie ableiten und auf die Erklärung menschlichen Verhalten. übertragen könnte.
Es wäre interessant zu fragen, ob es in bestimmten sozialen Organisationsformen auch bei unserer Spezies zu mehr Gewalt von Frauen gegen fremde Kinder kommt: in Gruppen, die eng, aber nur temporär zusammenleben etwa, oder bei Ressourcenmangel.
Mich persönlich würde das rein intuitiv nicht überraschen. Aber selbst wenn das bestätigt werden würde: Wäre es dann auch so, dass genau diese Form von Gewalt evolutionsbiologisch angelegt wäre und sich durchgesetzt hat, weil man so die eigenen Kinder eher groß bekommt?
Wohl kaum, glaube ich.
Zum Schluss statt eines Nachworts noch etwas Bemerkenswertes …
Weil ich ja kein Evolultionsbiologe, sondern schlichter Laie bin, habe ich sowohl Dr. Huchard als auch Dr. Lukas angeschrieben und gefragt, ob ich ihre Ergebnisse denn richtig dargestellt hatte.
Was soll ich sagen? Nach zwei Tagen hatte ich von beiden Antworten – und ausführliche und sehr erhellende Korrekturhinweise zu einzelnen Punkten (Herzlichen Dank!).
Schon erstaunliche Menschen, diese Wissenschaftler.
Well done! Gut recherchiert, sehr unterhaltsam geschrieben, wieder was gelernt. Interessant wärenun ein weiterführender Artikel zum Umgang mit Wissenschaftlern: Ist ein Zusammenleben mit Wissenschaftlern in größeren Gruppen möglich oder gar wünschenswert? Welche emotionalen und kognitiven Ressourcen müssen bereit gestellt werden, damit dies gelingen kann?
Danke.
Ha, das ist wirklich ein spannendes Thema, aber wenn man es systematisch angehen will und nicht nur anekdotisch, muss man sich bestimmt mit den Ergebnissen der Wissenschaftssoziologie herumschlagen. Eine Wissenschaftsverhaltenshumanbiologie gibt es glaube ich nicht. Schade eigentlich.